Chaos statt Kerzenschein. Du hast gekocht. Es gibt Nudeln mit Gemüse, etwas, das dein Kind mag. Du rufst: „Essen ist fertig!“. Dein Kind kommt, setzt sich, nimmt drei Gabeln – und zack, steht es wieder. Rennt zum Spielzeug. Kommt zurück. Klettert vom Stuhl. Krabbelt auf deinen Schoß. Und dein Nervenkostüm? Rappelt leise mit dem Besteck. Du stellst dir ein harmonisches Familienessen vor: Alle sitzen beisammen, essen, tauschen sich aus, lachen. Ein Bild aus einem skandinavischen Werbespot, vielleicht. Doch in deinem echten Alltag? Rennt dein Kind mit dem Brot in der Hand durch die Wohnung, steht zehnmal auf, spielt mit der Gabel oder sagt nach drei Bissen: „Ich bin satt!“ Nur um dann eine halbe Stunde später nach einem Snack zu fragen.
Du bist frustriert. Vielleicht genervt. Vielleicht auch beschämt, weil du denkst: „So sollte das doch nicht sein!“ Und genau hier beginnt die Einladung zu einem neuen Blickwinkel.
Was du glaubst, beeinflusst, was du siehst
Vielleicht denkst du: „Mein Kind ist respektlos. Es macht das extra. Es weiß doch, wie man sich beim Essen benimmt.“
Oder: „Wenn ich es jetzt lasse, wird es nie lernen, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält.“
Oder: „Alle anderen Kinder können das doch auch. Was mache ich falsch?“
Doch was, wenn das Verhalten deines Kindes gar kein Zeichen von Ungehorsam ist, sondern Kommunikation? Ein Ausdruck von Reifegrad, Bedürfnis oder Temperament?
Wenn wir anfangen, Verhalten als Botschaft zu verstehen, anstatt als Provokation, ändert sich alles. So wie Dr. Daniel J. Siegel es formuliert:
When we help our children make sense of their inner world, we equip them to better manage their behavior and connect with others.“
Wenn wir verstehen, was in unserem Kind vorgeht, müssen wir es weniger korrigieren – und können mehr begleiten.
Reiz-Reaktions-Muster: Was passiert da eigentlich?
Wenn dein Kind sich beim Essen nicht konzentrieren kann, nicht sitzenbleiben will, scheinbar stört oder „verrückt spielt“, dann liegt das meist nicht daran, dass es die Mahlzeit sabotieren möchte.
Häufiger liegt es an:
- Einem unausgeglichenen Nervensystem (z. B. nach einem aufregenden Tag)
- Einem hohen Bewegungsbedürfnis
- Unreifer Impulskontrolle (v.a. bei jüngeren Kindern)
- Geringer Motivation, „still zu sitzen“ (weil: langweilig!)
- Reizempfindlichkeit (z. B. durch Gerüche, Texturen oder Essgeräusche)
Fakt ist: Kinder entwickeln ihre Selbstregulation über viele Jahre hinweg. Das Gehirn ist dabei noch in der Bauphase. Still sitzen, Impulse hemmen, geduldig warten – das sind reife Leistungen. Für einige Kinder ist essen auch schlichtweg langweilig. Es ist wenig spielerisch, die Bewegung (sitzend im Kinderstuhl zum Beispiel) ist eingeschränkt
Was hat das mit uns zu tun?
Unser eigener Anspruch, wie ein „gutes Familienessen“ auszusehen hat, stammt selten aus uns selbst. Oft ist es ein kulturelles Ideal, ein Bild, das wir übernommen haben. Und dieses Bild kann Druck erzeugen. Druck auf uns – und auf unsere Kinder. Wer hat uns vermittelt, dass Essen ausschließlich am Tisch eingenommen werden darf? Im Sitzen. Am besten noch still und leise. In anderen Kulturen wird mit Händen gegessen, am Boden, gesellig und „laut“. Bedeutet das, dass wir einfach aushalten müssen, dass unser Kind aus dem Essen eine Lebensmittelschlacht veranstaltet oder unser noch kleines Kind mit Essen herumläuft, während wir innerlich die Angst aushalten, dass es sich daran gefährlich verschluckt? Keinesfalls! Aber wir dürfen genau darauf schauen, was uns abseits von „das macht man eben so“ oder „sonst wird es das Kind nie lernen“ oder „dann wird es das auch anderswo so machen und Probleme bekommen“ wirklich wichtig ist.
Wenn wir den Mut haben, dieses Bild zu hinterfragen, entsteht Raum für neue Wege:
- Was ist uns beim Essen wirklich wichtig?
- Was ist für unser Kind hilfreich?
- Wo dürfen wir locker lassen, wo wollen wir bewusst führen?
Warum zeigt ein Kind dieses Verhalten?
Essen ist keine rein mechanische Handlung. Es ist eingebettet in Beziehung, Sinneseindrücke, Bedürfnisse und Emotionen. Kinder mit hoher sensorischer Empfindsamkeit können z. B. bestimmte Konsistenzen oder Gerüche nicht gut ertragen. Andere Kinder brauchen zur Regulation Bewegung und sitzen buchstäblich „nicht gerne fest“. Wieder andere brauchen kleine Portionen, viel Kontrolle über das Wie und Wann – weil ihr Autonomiebedürfnis besonders ausgeprägt ist. Und bei neurodivergenten Kindern (z. B. ADHS, Autismus, Hochsensibilität) gilt das umso mehr: Fidget-Toys, Bewegung, Spiel (<<<ich verlinke dir hier meine Amazon Liste – Affiliate-Link / Werbung) – all das kann Teil einer Regulation sein, die das Essen überhaupt erst möglich macht.
Praktische Umsetzung: So kannst du neue Wege gehen
- Entscheide bewusst, was euch wichtig ist.
Vielleicht: Jeder isst, was und wieviel er mag. Kein Druck, kein Zwang, kein „Teller leer“ oder Probierzwang. - Experimentiere mit Settings für eure Mahlzeiten.
Picknick auf dem Boden? Tisch auf Kinderhöhe? Höhle mit Taschenlampe? Warum nicht? - In Bewegung essen – unter Bedingungen.
Sicherheit geht vor. Aber: Schaukeln, Wippen, im Stehen essen – bei größeren Kindern oft kein Problem, solange du dein Kind gut kennst. - Essen bewusst einleiten und abschließen.
Ein gemeinsamer Beginn (z. B. Klingel, Lied, kurzer Spruch) schafft Verbindung. Auch ein ritueller Abschluss kann helfen. - Spielerische Strukturen nutzen.
Geschichten erzählen, Essens-Bingos, Auswahl-Möglichkeiten anbieten: Kinder kooperieren eher, wenn sie einbezogen werden. - Keine Medien, wenn möglich.
Fernsehen oder Tablet verfälschen oft das Sättigungsgefühl. Lieber achtsames Essen im eigenen Tempo. Aber Achtung: Für manche (neurodivergente) Kinder kann das genau der falsche Weg sein. Sie können teilweise von Büchern, Hörgeschichten, usw. profitieren. Andere wiederum sind dann so im „Tunnel“, dass das Essen nur unbewusst wahrgenommen wird (was wiederum nicht ratsam ist). Also schau hier unbedingt individuell auf DEIN Kind. - Akzeptiere Unterschiede.
Was im Restaurant gilt, gilt nicht für zuhause. Und Kinder lernen sehr gut, Regeln kontextbezogen zu unterscheiden.
Reflexion: Was ist mein Anteil?
Vielleicht löst dieses Verhalten deines Kindes etwas in dir aus. Vielleicht macht es dich wütend der traurig, weil du selbst früher nicht aufstehen durftest, bis der Teller leer war. Vielleicht wurdest du für dein „Zappelverhalten“ kritisiert. Vielleicht willst du es besser machen – und weißt nicht genau wie.
Hier hilft innere Arbeit:
- Welche Erfahrungen aus meiner Kindheit wirken noch nach?
- Welche Werte will ich übernehmen, welche loslassen?
- Wo darf ich meine Kontrolle abgeben, wo bewusst gestalten?
Und schließlich: Wie kann ich mein Kind dabei begleiten, eine gesunde, freudvolle Beziehung zum Essen zu entwickeln?
Kinder, die beim Essen nicht stillsitzen können, sind nicht „schwierig“. Sie sind Kinder. Und sie brauchen unseren Blick hinter das Verhalten. Unsere Bereitschaft, alte Bilder loszulassen. Und unseren Mut, neue Rituale zu gestalten. Ein liebevoll geführtes Familienleben erkennt nicht an der Haltung am Tisch, sondern an der Haltung im Herzen.
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