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Einfach nur sensibel? Das sagt die Wissenschaft zur Hochsensibilität

Übersicht der Inhalte

Fakt ist: Das Konstrukt der Hochsensibilität ist in der Wissenschaft umstritten. Welche Erkenntnisse es aktuell gibt und was du für dich daraus mitnehmen kannst, wenn du vermutest, hochsensibel zu sein, erfährst du in diesem Artikel.

Hochsensibilität ist schon seit Jahren ein großes Thema. Bisher vor allem in anderen Ländern wie z.B. den USA. Nun gewinnt der Begriff aber auch in Deutschland immer mehr an Bekanntheit und wirft bei vielen die Frage auf, ob sie selbst oder ihre Kinder womöglich “betroffen” sind. Das für mich größte “Problem” an dem Konstrukt der Hochsensibilität: Es gibt sehr große Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zu Trauma, ADHS und Autismus Spektrum Störungen. Oft verschwimmen die Grenzen und das eine lässt sich vom anderen nicht gut abgrenzen. Zudem können mehrere dieser Dinge gleichzeitig auftreten. Hochsensibilität oder auch “Gefühlsstärke” (wie es manche Autorinnen nennen) sind weiterhin wissenschaftlich nicht gut untersucht. Es finden sich hierzu demnach auch keine Kriterien in den gängigen Manualen für Diagnostik. Sie sind also keine Erkrankungen oder Störungsbilder. Mehr dazu gleich.

Kurz vorab: Hast du ein hochsensibles Kind oder vermutest du, dass dein Kind hochsensibel ist? Schau dir gern diesen Blogartikel an. Hier gehe ich speziell auf das Thema Hochsensibilität bei Kindern ein.

Nun aber zurück zum aktuellen Stand der Forschung. Bis heute sind sich die Forschenden nicht einig darüber, ob Hochsensibilität Traumafolge ist, vererbt oder erworben, ein eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal ist oder doch anderen Persönlichkeitsmerkmalen, wie z.B. Neurotizismus, zugeordnet werden kann.

Wie wird die Diagnose Hochsensibilität gestellt?

Tatsächlich gar nicht. Hochsensibilität ist keine psychische Störung und somit auch nicht in den Diagnose-Manualen DSM-V oder ICD-10 gelistet oder beschrieben. Es gibt keine eindeutige Schwelle, ab der ein Mensch als “hochsensibel” gilt. Es ist eher ein Konstrukt mit unterschiedlich ausgeprägten Facetten.

Der Begriff Hochsensibilität wurde in den frühen 90er-Jahren durch die Psychologin Elaine Aron erstmals beschrieben. Sie nutzte diesen für Menschen, die Reize intensiver wahrnehmen und anders verarbeiten als die meisten anderen. (Weiterführende Artikel zum Thema Hochsensibilität findest du unter diesem Blogpost verlinkt)

Diese Beschreibung wird auch heute häufig verwendet, um Hochsensibilität zu definieren. Die wissenschaftlichen Grundlagen sind allerdings umstritten. Die Forscher tun sich immer noch schwer damit, diesen Begriff genau zu erfassen. Elaine Aron definierte vier Merkmale, die zutreffen müssen, um einen Menschen als “hochsensibel” zu beschreiben. Sie werden als Kürzel DOES zusammengefasst.

4 Merkmale, an denen du Hochsensibilität erkennst

1. Depth of processing (Verarbeitungstiefe von Informationen)

Hochsensible nehmen im Gegensatz zu Nicht-Hochsensiblen deutlich mehr Einzelheiten wahr, wodurch Gefühle intensiver erlebt, Geschehnisse genauer beobachtet und Entscheidungen stärker abgewogen werden.

2. Over Arousability / Overstimulation (Überreizung)

Hochsensible neigen schneller zu einer Reizüberflutung. Folglich auch zu früherer Erschöpfung und geringerer Belastbarkeit. Sie geraten leichter unter Stress, was sich u. a. in Gefühlsausbrüchen, psychosomatischen Beschwerden, Unkonzentriertheit oder Vergesslichkeit äußern kann.

3. Emotional Intensity and Empathy (Emotionale Berührbarkeit)

Hochsensible sind häufig sehr empathisch und erahnen intuitiv, in welcher Stimmung sich ihr Gegenüber befindet. Sie können ihre eigenen Emotionen schlechter von denen des Gegenübers abgrenzen. Empfinden andere Personen in ihrer Gegenwart z.B. Wut, Trauer oder Angst empfinden Hochsensible oft ähnlich und leiden stark mit.

4. Sensory sensitivity (Wahrnehmung subtiler Reize)

Das Nervensystem von Hochsensiblen reagiert sehr empfindlich auf die 5 Sinnesreize: Fühlen/Tasten, Schmecken, Hören, Riechen und Sehen. Diese können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und müssen nicht alle gleich empfindlich wahrgenommen werden.

Sind hochsensible Gehirne anders?

Kind mit sensorischem Spielzeug bei Hochsensibilität

Einige Untersuchungen konnten nachweisen, dass bei vielen introvertierten Kindern dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel vorzufinden sind. Hieraus ergäbe sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Zusammenspiel von Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren bei diesen chronisch aktiver bzw. reaktiviert ist, was auf erhöhte Hirnaktivität hinweist. An dieser Stelle kann ich wieder zur Achtsamkeit bei der Interpretation aufrufen. Denn diese Eigenschaft trifft auch auf andere Störungsbilder zu und ist ebenso eine klassische Folge von Trauma.

In einer Untersuchung aus dem Jahr 2011 wiesen Hochsensible eine stärkere Aktivierung in Hirnarealen auf, die für die Steuerung der visuellen Aufmerksamkeit zuständig ist. Für die Forscher ein Hinweis auf eine tiefere sensorische Verarbeitung. Auch hier könnte eine durch Trauma erworbene Hypervigilanz (übertriebene Aufmerksamkeit und Wachsamkeit) hineininterpretiert werden.

Eine Studie von 2014 fand heraus, dass bei Hochsensiblen insbesondere die Areale vermehrt aktiv waren, die an Aufmerksamkeit, Empathie und am Nachdenken über sich selbst und andere beteiligt sind. Diese Studie hat jedoch einige methodische Schwächen, die ihre Aussagekraft schmälern. Und auch hier könnte man interpretieren, dass dies keine Hochsensibilität als eigenes Konstrukt abbildet, sondern eine Traumafolgestörung. Menschen, die Entwicklungs- oder Bindungstrauma erfahren haben, mussten sehr früh lernen, ihre Umgebung wachsam zu “scannen”. Sie mussten ein Gespür für die Stimmungen der Menschen entwickeln, von denen sie abhängig waren, von denen ihre Versorgung abhängig war. Es war also notwendig für das Überleben, besonders einfühlsam, empathisch und anpassungsfähig an die empfundenen Stimmungslagen zu sein.

Gene oder Umwelt – Wie entsteht Hochsensibilität?

Forscher konnten zeigen, dass Mutationen in Genen bestimmter Neurotransmittersysteme (u.A. Dopamin, Serotonin, Oxytocin, GABA) mit Hochsensibilität korreliert sind. Ob dies nun der Beweis für die genetische Ursache ist oder Hochsensibilität doch auch epigenetische Folge (und damit erworben) sein kann, ist noch unklar.

Die Forschung ist sich nicht einig darüber, ob Hochsensibilität eine Traumafolge, ein eigenes Persönlichkeitsmerkmal oder sogar andere Persönlichkeitseigenschaften wie z. B. Neurotizismus (Emotionskontrolle) zugeordnet werden kann. Während einige behaupten, Hochsensibilität sei eine angeborene Anomalie der Gehirnstruktur und Stoffwechselprozesse im Gehirn, bestreiten andere diese These.

Huch, sind das nicht die gleichen oder sehr ähnliche “Symptome” wie bei Trauma?

Oh ja! Und deshalb ist es wie eingangs erwähnt auch so schwer nachzuweisen, was nun vorliegt und was nicht und welche Dinge vielleicht gleichzeitig vorliegen. Auch bei Störungen wie beispielsweise AD(H)S sind die Neurotransmitter im Gerhirn verändert. Sie sind z.B. zu wenig vorhanden oder werden schlecht aufgenommen. Erwachsene und Kinder, die dem Autismusspektrum zugeordnet werden können, reagieren mitunter ebenfalls sehr sensibel auf Geräusche, Gerüche, Geschmäcker oder sensomotorische Eindrücke. Auch hier gibt es demnach Überschneidungspunkte.

Hochsensibilität und Trauma

Hochsensibilität Frau umarmt sichTraumata sorgen dafür, dass das autonome Nervensystem – wie auch bei Hochsensibilität – quasi dauerhaft hoch erregt ist. Dabei ist es egal, ob das Trauma ererbt oder erworben wurde.

Hat ein Mensch Trauma erfahren – und wir dürfen davon ausgehen, dass dies bei deutlich mehr Menschen der Fall ist, als angenommen – liegt häufig ebenfalls eine Störung der “Stress-Achse” des Körpers, der HPA-Achse vor. Das System ist dadurch quasi permanent im Überlebensstress und dadurch unter anderem hypervigilant (über-aufmerksam). Es ist also bei traumatisierten Menschen ganz typisch, dass (ähnlich wie bei HSP) ständig sozusagen “alle Antennen auf Empfang” sind und viel mehr wahrgenommen wird als von nicht traumatisierten und/oder normal sensiblen Menschen.

Aber Achtung! Trauma IST nicht Hochsensibilität. Hochsensibilität IST nicht Trauma.

Wer hochsensibel ist, ist jedoch automatisch anfälliger für Traumata (sowohl Schock- als auch Bindungs-/Entwicklungstraumata). Und wer ein traumatisiertes Nervensystem hat, weist große Überschneidungen mit den Merkmalen von Hochsensibilität auf. Ob nun alle hochsensiblen Menschen transgenerationales (vererbtes), pränatales (vor der Gebirt – also im Mutterleib), perinatales (während der Geburt), Entwicklungs-, Bindungs- oder Schocktrauma erfahren haben und die Hochsensibilität damit eine Traumafolgestörung ist, ist wissenschaftlich bis heute nicht abschließend geklärt.

Auch die Zusammenhänge zwischen Trauma und AD(H)S müssen weiter erforscht werden.

Was du aus diesen Erkenntnissen mitnehmen kannst..

Du merkst, die wissenschaftlichen Daten zum Thema Hochsensibilität sind (noch) dünn und nicht eindeutig. Hochsensibilität hat viele Eigenschaften, die auch in anderen Konstrukten wiederzufinden sind. Gibt es Hochsensibilität wirklich? Wer weiß? Sind HSP immer auch traumatisiert? Wer weiß? Dieser Aritkel hier ist keine wissenschaftliche Untersuchung, sondern fasst meine eigenen Beobachtungen und bisherigen Erkenntnisse zusammen. Als Psychologin, die gelernt hat, wissenschaftlich zu arbeiten, würde ich persönlich mir nicht anmaßen, hier ein allgemeingültiges Fazit zu ziehen oder gar zu behaupten es gäne das eine, jedoch nicht das andere oder nur beides zusammen. Was ich persönlich in Frage stelle, ist das neu hinzugekommene “Label” der “Gefühlsstärke”, wovon man neuerdings häufig im Bereich der Erziehung liest. Schaut man sich die Eigenschaften von Gefühlsstärke an und vergleicht diese mit Hypervigilanz, gibt es extrem große Überschneidungen. Vergleicht man die geringe Impulskontrolle von “gefühlsstarken Kindern” mit neuridivergenten Kindern (z.B: ADHS, ASS), gibt es auch hier wieder eine deutliche Überschneidung.

Auch wenn Hochsensibilität keine offizielle Diagnose ist, kann dir die Erkenntnis dabei helfen, deinen Alltag zu erleichtern. Es gibt dir die Möglichkeit, dich selbst besser zu verstehen und deine Stärken zu erkennen. Ebenso dein Umfeld entsprechend zu gestalten, um dich weniger zu überfordern und zu überreizen.

Zudem wird deutlich, dass es vor allem bei Kindern schwierig ist, die Hochsensibilität zu erkennen. Bis zu einem Alter von etwa 5 Jahren haben Kinder noch keinen ausgereiften Präfrontalkortex. Die Impulskontrolle ist kaum vorhanden. So lässt sich schwer erkennen, ob die Vielzahl an Wutausbrüchen in diesem Alter auf Hochsensibilität – also auf schnellere Überreizung und schwierigere Regulation – oder allein auf die fehlende Impulskontrolle zurückzuführen ist. Auch gibt es hier starke Überschneidungen mit anderen Störungsbildern, weshalb eine Diagnose oder Differentialdiagnose (ADHS, Autismus Spektrumsstörung,…) durchaus überdacht werden sollte.

Wie du Hochsensibilität bei Kindern dennoch frühzeitig erkennst, sie im Alltag begleitest und besser verstehst, erfährst du in diesem Blogartikel. 

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Quellen und weiterführende Links:

Artikel Spektrum online “Bin ich hochsensibel”
Selbsttest Hochsensibilität
Artikel Spektrum online “Der Streit um die Feinfühligkeit”
Buch: “Orchidee oder Löwenzahn”
Buch: “Das hochsensible Kind”
Meißner, A. (2015): Hochsensible Persönlichkeiten – ein wohl überflüssiges Störungskonzept.
Acevedo BP; Aron, Elaine N.; Aron, Arthur; Sangster, Matthew-Donald; Collins, Nancy; Brown, Lucy L. (2014): The highly sensitive brain: an fMRI study of sensory processing sensitivity and response to others’ emotions
Boyce, WT; Ellis, BJ (2005): Biological sensitivity to context: I. An evolutionary-developmental theory of the origins and functions of stress reactivity
Jagiellowicz, J.; Xu X.; Aron A., Aron E.; Cao G.; Feng T.; Weng X. (2011): The trait of sensory processing sensitivity and neural responses to changes in visual scenes

 

 

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Hannah Blankenberg
Hannah Blankenberg

Psychologin (M.Sc.), Systemische Beraterin, Mama

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