Fakt ist: Das Konstrukt der Hochsensibilität ist in der Wissenschaft umstritten. Welche Erkenntnisse es aktuell gibt und was du für dich daraus mitnehmen kannst, wenn du vermutest, hochsensibel zu sein, erfährst du in diesem Artikel.
Hochsensibilität ist schon seit Jahren ein großes Thema. Bisher vor allem in anderen Ländern wie z.B. den USA. Nun gewinnt der Begriff aber auch in Deutschland immer mehr an Bekanntheit und wirft bei vielen die Frage auf, ob sie selbst oder ihre Kinder womöglich “betroffen” sind.
Kurz vorab: Hast du ein hochsensibles Kind oder vermutest du, dass dein Kind hochsensibel ist? Schau dir gern diesen Blogartikel an. Hier gehe ich speziell auf das Thema Hochsensibilität bei Kindern ein.
Nun aber zurück zum aktuellen Stand der Forschung. Bis heute sind sich die Forschenden nicht einig darüber, ob Hochsensibilität Traumafolge ist, vererbt oder erworben, ein eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal ist oder doch anderen Persönlichkeitsmerkmalen, wie z.B. Neurotizismus, zugeordnet werden kann.
Wie wird die Diagnose Hochsensibilität gestellt?
Tatsächlich gar nicht. Hochsensibilität ist keine psychische Störung und somit auch nicht in den Diagnose-Manualen DSM-V oder ICD-10 gelistet oder beschrieben. Es gibt keine eindeutige Schwelle, ab der ein Mensch als “hochsensibel” gilt. Es ist eher ein Konstrukt mit unterschiedlich ausgeprägten Facetten.
Der Begriff Hochsensibilität wurde in den frühen 90er-Jahren durch die Psychologin Elaine Aron erstmals beschrieben. Sie nutzte diesen für Menschen, die Reize intensiver wahrnehmen und anders verarbeiten als die meisten anderen.
Diese Beschreibung wird auch heute häufig verwendet, um Hochsensibilität zu definieren. Die wissenschaftlichen Grundlagen sind allerdings umstritten. Die Forscher tun sich immer noch schwer damit, diesen Begriff genau zu erfassen. Elaine Aron definierte vier Merkmale, die zutreffen müssen, um einen Menschen als “hochsensibel” zu beschreiben. Sie werden als Kürzel DOES zusammengefasst.
4 Merkmale, an denen du Hochsensibilität erkennst
1. Depth of processing (Verarbeitungstiefe von Informationen)
Hochsensible nehmen im Gegensatz zu Nicht-Hochsensiblen deutlich mehr Einzelheiten wahr, wodurch Gefühle intensiver erlebt, Geschehnisse genauer beobachtet und Entscheidungen stärker abgewogen werden.
2. Over Arousability / Overstimulation (Überreizung)
Hochsensible neigen schneller zu einer Reizüberflutung. Folglich auch zu früherer Erschöpfung und geringerer Belastbarkeit. Sie geraten leichter unter Stress, was sich u. a. in Gefühlsausbrüchen, psychosomatischen Beschwerden, Unkonzentriertheit oder Vergesslichkeit äußern kann.
3. Emotional Intensity and Empathy (Emotionale Berührbarkeit)
Hochsensible sind häufig sehr empathisch und erahnen intuitiv, in welcher Stimmung sich ihr Gegenüber befindet. Sie können ihre eigenen Emotionen schlechter von denen des Gegenübers abgrenzen. Empfinden andere Personen in ihrer Gegenwart z.B. Wut, Trauer oder Angst empfinden Hochsensible oft ähnlich und leiden stark mit.
4. Sensory sensitivity (Wahrnehmung subtiler Reize)
Das Nervensystem von Hochsensiblen reagiert sehr empfindlich auf die 5 Sinnesreize: Fühlen/Tasten, Schmecken, Hören, Riechen und Sehen. Diese können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und müssen nicht alle gleich empfindlich wahrgenommen werden.
Sind hochsensible Gehirne anders?
Einige Untersuchungen konnten nachweisen, dass bei vielen introvertierten Kindern dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel vorzufinden sind. Hieraus ergäbe sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Zusammenspiel von Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren bei diesen chronisch aktiver bzw. reaktiviert ist, was auf erhöhte Hirnaktivität hinweist.
In einer Untersuchung aus dem Jahr 2011 wiesen Hochsensible eine stärkere Aktivierung in Hirnarealen auf, die für die Steuerung der visuellen Aufmerksamkeit zuständig ist. Für die Forscher ein Hinweis auf eine tiefere sensorische Verarbeitung.
Eine Studie von 2014 fand heraus, dass bei Hochsensiblen insbesondere die Areale vermehrt aktiv waren, die an Aufmerksamkeit, Empathie und am Nachdenken über sich selbst und andere beteiligt sind. Diese Studie hat jedoch einige methodische Schwächen, die ihre Aussagekraft schmälern.
Gene oder Umwelt – Wie entsteht Hochsensibilität?
Forscher konnten zeigen, dass Mutationen in Genen bestimmter Neurotransmittersysteme (u.A. Dopamin, Serotonin, Oxytocin, GABA) mit Hochsensibilität korreliert sind. Ob dies nun der Beweis für die genetische Ursache ist oder Hochsensibilität doch auch epigenetische Folge (und damit erworben) sein kann, ist noch unklar.
Die Forschung ist sich nicht einig darüber, ob Hochsensibilität eine Traumafolge, ein eigenes Persönlichkeitsmerkmal oder sogar andere Persönlichkeitseigenschaften wie z. B. Neurotizismus (Emotionskontrolle) zugeordnet werden kann.
Hochsensibilität und Trauma
Traumata sorgen dafür, dass das autonome Nervensystem – wie auch bei Hochsensibilität – quasi dauerhaft hoch erregt ist. Dabei ist es egal, ob das Trauma ererbt oder erworben wurde.
Wie eine Art Frühwarnsystem sind ständig “alle Antennen auf Empfangsbereitschaft”. Die Umgebung wird sehr sensibel wahrgenommen, um rechtzeitig vor möglichen “Gefahren” weglaufen zu können. Dies dient dem Überleben.
Aber Achtung! Trauma ist NICHT Hochsensibilität. Hochsensibilität ist NICHT Trauma.
Wer hochsensibel ist, ist jedoch anfälliger für Traumata (sowohl Schock- als auch Bindungs-/Entwicklungstraumata). Und wer ein traumatisiertes Nervensystem hat, weist große Überschneidungen mit den Merkmalen von Hochsensibilität auf.
Was du aus diesen Erkenntnissen mitnehmen kannst..
Du merkst, die wissenschaftlichen Daten zum Thema Hochsensibilität sind (noch) dünn und nicht eindeutig.
Auch wenn Hochsensibilität keine offizielle Diagnose ist, kann dir die Erkenntnis dabei helfen, deinen Alltag zu erleichtern. Es gibt dir die Möglichkeit, dich selbst besser zu verstehen und deine Stärken zu erkennen. Ebenso dein Umfeld entsprechend zu gestalten, um dich weniger zu überfordern und zu überreizen.
Zudem wird deutlich, dass es vor allem bei Kindern schwierig ist, die Hochsensibilität zu erkennen. Bis zu einem Alter von etwa 5 Jahren haben Kinder noch keinen ausgereiften Präfrontalkortex. Die Impulskontrolle ist kaum vorhanden. So lässt sich schwer erkennen, ob die Vielzahl an Wutausbrüchen in diesem Alter auf Hochsensibilität – also auf schnellere Überreizung und schwierigere Regulation – oder allein auf die fehlende Impulskontrolle zurückzuführen ist.
Ebenso ist es Kindern aufgrund der Hirnreife erst ab einem bestimmten Alte möglich, Empathie zu empfinden, sodass auch hier die “Diagnose” oft erst später sichtbar wird.
Wie du Hochsensibilität bei Kindern dennoch frühzeitig erkennst, sie im Alltag begleitest und besser verstehst, erfährst du in diesem Blogartikel.
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Quellen und weiterführende Links:
Artikel Spektrum online “Bin ich hochsensibel”
Selbsttest Hochsensibilität
Artikel Spektrum online “Der Streit um die Feinfühligkeit”
Buch: “Orchidee oder Löwenzahn”
Buch: “Das hochsensible Kind”
Meißner, A. (2015): Hochsensible Persönlichkeiten – ein wohl überflüssiges Störungskonzept.
Acevedo BP; Aron, Elaine N.; Aron, Arthur; Sangster, Matthew-Donald; Collins, Nancy; Brown, Lucy L. (2014): The highly sensitive brain: an fMRI study of sensory processing sensitivity and response to others’ emotions
Boyce, WT; Ellis, BJ (2005): Biological sensitivity to context: I. An evolutionary-developmental theory of the origins and functions of stress reactivity
Jagiellowicz, J.; Xu X.; Aron A., Aron E.; Cao G.; Feng T.; Weng X. (2011): The trait of sensory processing sensitivity and neural responses to changes in visual scenes